Colorful Expansion
Jedes Bild ist eine Insel, es hat seine eigenen Regeln, Bedeutungen. Enrico de Vita geht beim Betreten der Insel, also beim Beginn des Malaktes nicht von einem festen Plan aus, auch nicht von einer bestimmten Bewegung; er setzt den ersten Farbtupfer spontan auf die Leinwand oder aufs Papier. In jeder weiteren Aktion nach dem ersten Tupfer wird auf die schon gesetzte Farbe direkt und intuitiv reagiert, und dabei schwankt der Künstler im Laufe der weiteren Arbeit zwischen Wiederholung, Weg-nehmen des Gesetzten oder Kontrastierung, was ihm in den Sinn kommt. Überschauen wir die Ausstellung, dann muss uns auffallen, dass ihre Spannweite von einfachen Farbflächen- Kompositionen bis zu solchen mit einem heftigen Durcheinander von Farben reicht. Achten wir dabei auf die Datierungen, Jahreszahlen, dann fällt uns auf, dass sie keine Linie von Fläche zu Gegenstand oder Geste ergeben, sondern dass der jeweilige spontane Beginn im Laufe der Arbeit am einzelnen Bild zu immer anderen Kompositionen führt. Ähnlichkeiten im Bildaufbau können entstehen.
Beispiel: Die beiden einfach scheinenden Farbflächen- Kompositionen sind Ruhepunkte und nähern sich einfachen Landschaftsbildern, wenn nicht die Farben dem widersprechen oder in weiteren Bildern die Flächen in einfache gleichförmige Strukturen aufgelöst werden, die sich von landschaftlichen Vorstellungen wieder entfernen, eher eine textile Fläche assoziieren können.
Wer die Bilder betrachtet – und das gilt für alle Werke -, hat das Recht, sich auf Assoziationen einzulassen; der Künstler wünscht geradezu, dass das Publikum etwas sieht und entdeckt, ohne dass das Wahrgenommene mit den Intentionen des Malers übereinstimmen muss.
Gehen wir auf einzelne Bilder ein wenig genauer ein, um etwas mehr von der Arbeitsweise Enrico de Vitas zu erfahren, vielleicht zuerst jenes Bild, das auf der Einladung stand und weil es zu den vielseitigsten der Ausstellung gehört. Wir sehen als Grundlage der Komposition eine rote Fläche, die aber in der Dichte des Rots differenziert ist, so dass Binnenformen zu erkennen sind, einige um weniges hellere rote Flächen um die beiden blauen Senkrechten, die im unteren Abschnitt wellenmäßig bewegt erscheinen. Drum herum gibt es sowohl schwarze und blaue Elemente, von denen wir sagen können, es sind Flecken, Spuren, droppings, also vom Pinsel herabfallende Tropfen, die die rote Fläche beleben sollen. Zusätzlich konturieren schwarze Linien kleinere Formabschnitte der linken blauen Senkrechten mit dem angehängten Weiß. Dieses Weiß deutet eine größeren Tiefe an – man kann auch das Gefühl haben, das Weiß ist ein Rest von einem Segel. Das bringt uns auf die Idee, nachzuprüfen, was die beiden blauen vertikalen Formen sein könnten und der nächstliegende Gedanke bei zwei Masten, etwas Weiß und einer wellenhaft umrahmten Basis – das ist ein Segelboot. Gestützt wird diese Entdeckung durch die Flächen in Rot, die um eine Stufe heller sind als das übrige Rot und dabei um die beiden vertikalen blauen Streifen einen großen Bogen schlagen – die Andeutung eines Segels. Doch die etwas ornamentale Form kann auch etwas ganz Anderes assoziieren – nämlich Buchstaben, die vielleicht auf dem Kopf stehen: Wenn das Bild umgedreht wird, dann haben wir ein blaues I und T. In Verbindung mit den anderen Farben ergeben sich auch die Buchstaben V und A – aus einer Form, wenn man beide Momente – Buchstabe und sein auf den Kopf gestelltes Gegenbild zusammen sieht.
Ein ähnlich dem Gegenstand nahes Bild ist die grüne Malerei, die als Festigkeit gleichfalls vertikale Formen oder Streifen hat, aber sie nicht durch Andersfarbigkeit betont. Doch werden sie hervorgehoben, weil es ihresgleichen sonst in keinem anderen Bild gibt. Diese Vertikalen haben so etwas wie eine buschige unbestimmte Form. Auch sie assoziieren Bäume mit langgezogenem Geäst und blattreicher Krone. Ich denke an Pappeln. Gestützt wird diese Entdeckung von kleinen Formen in Schwarz, die in einer Ecke an kahle Äste erinnern. Gestützt wird auch diese Entdeckung vom gesamten Farbton des Bildes – Grün kann meist vor allem Landschaft meinen. Doch ist diese Landschaft so weit abstrahiert, dass solcher landschaftlicher Inhalt nicht gesichert ist.
Die anderen Bilder in dieser Reihe zeigen große und kleine Eigenheiten bei intensiver Farbigkeit, etwa die in kleine vertikalen Linien aufgesplitterte Struktur an manchen Bildstellen und im Unterschied dazu die breiten Balken und Farbstreifen in dem anderen Bild. Wir können sehen, wie sich im Bild Räume entwickeln zwischen den Farbbalken. Sie haben klare Ränder und halten Abstand zueinander, so dass die Flächen zwischen ihnen Platz für andere Farben lassen. Es ist nun eine Frage der Wahrnehmung, und die kann bei jedem Betrachtenden verschieden sein, ob diese Flächen zwischen den Balken einen flachen oder einen tiefen Binnenraum ergeben. Das hängt von ihrer Farbgebung ab. Blau würde einen tiefen offenen Raum anzeigen; Rot dagegen nur einen flachen, da Rot sich in den Vordergrund drängt, Blau dagegen in die Ferne weist – wir sind das vom Betrachten des Himmels so gewohnt.
Auch wenn ein Bild ohne Plan entsteht, ergeben sich im Malprozess auf der Leinwand Kontraste und Zusammenhänge, die das neue Bild in den Kanon der vorausgegangener Arbeiten überführt. Seine Details verbinden es mit vielen anderen Werken auch von anderen Künstlern.
Die Bilder, die wir bis jetzt betrachtet haben, zeigen eine grundsätzliche Gemeinsamkeit – sie sind über die ganze Fläche gemalt und nicht auf eine Form im Bildzentrum konzentriert, also zum Beispiel auf einen Gegenstand, auf ein Schiff oder – was wir jetzt noch anschauen wollen – auf eine malerische Geste. Manchmal treibt es einen Künstler, auf der Bildfläche zu einer großen Gebärde, zu einem Armschwung auszuholen und den Pinsel auf der Leinwand eine schwungvolle Bewegung machen zu lassen. Enrico de Vita hat auch solche Bilder gemalt. Der Schwung ist deutlich abgesetzt vom Bildgrund, er wird teilweise sogar von einer schwarzen Linie begleitet, die die Form stützt und festigt. Ob dieser Pinselzug etwas bedeutet, bleibt offen, auf jeden Fall beherrscht die Geste das Bild und alle anderen Formelemente treten zurück. In einem Fall zeigt die stark farbige Geste einen Auslauf, der plötzlich rhythmisch gegliedert wird, also sich wandelt. Ob sich dahinter eine Bedeutung oder eine Erinnerung verbirgt, müssen wir offen lassen. Die andere Geste könnte sogar als ein Körperdetail gesehen werden – es erinnert an einen geknickten Daumen.
Einrico de Vita hat einen zutreffenden Titel gewählt - “Colorful Expansion” – farbenvolle Ausdehnung: Der Titel gilt für das einzelne Bild vom anfangs gesetzten Tupfer bis zur vielgliedrigen Komposition und darüber hinaus für das ganze ausgestellte Werk.
Jürgen Weichardt